"Experimental Art is never tragic - It is a preludium" (Allan Kaprow)

Anlässlich eines Vortrags über „Mapping", den Frank Barkow im Dezember 1996 an der ETH für die Entwurfsklasse von Renzo Vallebuona hielt, tauchte die Frage auf, wie im architektonischen Entwurfsprozess vom „passiven Registrieren" zum „aktiven Spekulieren" (Barkow) übergegangen werden könne. Mit anderen Worten: was tun, wenn die Landkarte fertig ist?



Antworten auf diese Frage dürfen von der Kunstgeschichte nicht erwartet werden allenfalls die Feststellung von Analogien. Vor einem vergleichbaren Problem stand die bildende Kunst schon einmal in den ausgehenden 1960er Jahren. Nachdem sie ihr Terrain gewissermassen ausgesteckt hatte - „Was ist Kunst?" lautete damals die Frage - wusste sie nicht weiter. Die spektakulären Projekte der künstlerischen Landnahme, die Formulierungen von Concept Art und Land Art, standen denn auch bereits Anfang der 1970er Jahre vor dem Aus. Erst eine Generation später, in den frühen 1990er Jahren, haben jüngere Künstlerinnen begonnen, die verstaubten Karten und Tabellen ihrer Vorgänger unter dem Schutt allerlei sperriger Objekte, die sich vor allem im Verlauf der 1980er Jahre angehäuft hatten, wieder hervorzugraben und nach neuen Wegen zu suchen. Zu diesen Künstlern gehören Vertreter der Kontext Kunst wie Mark Dion oder Christian Philipp Müller, welche im Sommer 1995 in der Ausstellung „Platzwechsel" in der Kunsthalle Zürich zu sehen waren. Sie knüpfen an Künstler an, die bereits vor dreissig Jahren versuchten, über das blosse Registrieren und Systematisieren hinauszugehen. So haben beispielsweise Robert Smithsons Texte aus den späten 1960er Jahren zur Zeit Konjunktur, weil sie weniger als Bestandsaufnahme, denn als allegorische Reiseberichte durch das Reich der Kunst verstanden werden können.2 Ihre erzählerische Struktur öffnet sich in alle Richtungen, zur Vergangenheit wie zur Zukunft, springt unbefangen von der Hochkunst zur Trivialkultur und fordert zum Weitererzählen auf. Auch Allan Kaprows Happenings der frühen 1960er Jahre, in welchen er das neu eroberte Terrain der Kunst nicht absicherte und verteidigte, sondern als Spielfeld öffnete, bieten sich als Ausgangspunkt neuer Spekulationen an. Kaprows Kritik der Objekt- haftigkeit von Kunst und seine Ablehnung der kategorialen Trennung in verschiedene Medien liefern ein schier unerschöpfliches Potential an spekulativen Möglichkeiten.

Voraussetzung dafür ist das Abstreifen der traditionellen Aufgaben, welche der Kunst als Nachfolgerin der Religion im Lauf der zweihundertjährigenGeschichte der Moderne aufgebürdet worden waren. So hat für Kaprow die Kunst keine therapeutische Funktion. Ein Künstler ist für ihn kein Held, der wie Achilles an einer übermächtigen Aufgabe zwangsläufig tragisch scheitern muss, sondern vielmehr eine Art Odysseus, der listig und pragmatisch nach jeweils möglichen Lösungen sucht. Seiner Ansicht nach kann die Kunst die Probleme des Lebens nicht vereinfachen oder lösen, sondern sie leistet bereits viel, wenn sie sich mit der Komplexität und Widersprüchlichkeit des Lebens messen kann. Dem Satz des künstlerischen Weltverbesserers Joseph Beuys: „Jeder Mensch ist ein Künstler", könnte er als weltlicher Kunstverbesserer entgegenhalten: „Jeder Künstler ist ein Mensch". Die idealistische Suche nach „Wahrheit", „Wesen", „Ökonomie", etc. welche den modernistischen Diskurs trägt, sowie die Identifikation mit den historischen Künstlerbewegungen der Avantgarden, also der Anspruch auf eine gesellschaftliche Aussenseiter-rolle, kritisieren Kaprow, Smithson und manche ihrer Zeitgenossen als anachronistischen ideologischen Ballast. In diesem Sinne können sie gesehen werden als Vertreter der Postmoderne, als Kritiker der modernistischen Orthodoxie.

Im Gegensatz zur bildenden Kunst, wo die Modernisten längst das Feld geräumt haben - einige Bollwerke haben Donald Judd, Joseph Beuys undRichard Serra beim Rückzug allerdings errichten können - scheinen sie in der Architektur die Stellung vielerorts zu halten. Den Begriff der Postmoderne setzen sie in Anführungszeichen und verwenden ihn als Schimpfwort. Vage Vorstellungen wie „Funktionalismus" oder „Einfachheit" hingegen führen sie nach wie vor auf dem eigenen Banner und verlangen, dass sie für bare Münze genommen werden und nicht als Fiktionen. Sogar einzelne Formenelemente wie der rechte Winkel, das Flachdach und das Fensterband, ja bestimmte Materialien und Farben werden aus ihremhistorischen Zusammenhang gelöst und spezifischen ideologischen Haltungen zugeordnet. Wie zu Zeiten des Kalten Kriegs, als im Westen „abstrakt" gleichgesetzt wurde mit „demokratisch" und „figurativ" gleichgesetzt mit „diktatorisch" - und im Osten dieselben Kategorien spiegelverkehrt verstanden wurden - verbinden sie ästhetische und ethische Kategorien.

Wird der Modernismus nicht als gottgegebene Notwendigkeit, sondern als ein historisch bedingter Stil unter anderen begriffen, respektive skeptisch als akademisch sanktionierte ideologische Konstruktion betrachtet, dann sind die Türen prinzipiell offen für neue Experimente. Die Orientierung an der Geschichte der Kunst bietet sich gerade in diesem Zusammenhang an und ist zweifellos in mancher Hinsicht inspirierend. Problematisch scheint mir allerdings eine allzu buchstäbliche Anlehnung an einzelne Produkte der Kunst zu sein. Die derzeitige Zelebrierung der Minimal Art seitens der Architekturkritik birgt die Gefahr solcher Kurzschlüsse. Gerade die technoide Ästhetik der Werke eines Donald Judd oder Richard Serra sowie deren Rhetorik der „Ortsspezifik" verführen dazu, sie als Legitimierung architektonischer Taktiken zu verwenden. Judds und Serras in den 1980er Jahren deklarierte Annäherung der eigenen Kunstproduktion an die Architektur kann auch als Versuch gesehen werden, die zerzauste Fahne des Modernismus auf das Feld der Architektur hinüberzuretten. Eine unkritische Übernahme von Elementen eines etablierten künstlerischen Vokabulars in die architektonische Praxis riskiert deshalb, eine formale Ideologie einfach durch eine andere zu ersetzen und in eine neue Art von Abhängigkeit zu geraten.

PHILIP URSPRUNG

*1963 geboren in Baltimore, MD, USA; 1983–1993 Studium der Kunstgeschichte, Allgemeinen Geschichte und Germanistik in Genf, Wien und Berlin; 1989 Licence ès Lettres, Université de Genève; 1993 Promotion, Freie Universität Berlin; 1999 Habilitation, ETH Zürich; 1992/93 Assistent und Oberassistent Departement de l’Histoire de l’art, Université de Genève ; 1993–1999 Oberassistent Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, ETH Zürich; 1997–2000 Gastprofessur Ecole Supérieure d’Art Visuel, Genf; 1998 Gastprofessur Kunsthochschule Berlin-Weißensee; 1999 Lehrstuhlvertretung ETH Zürich; 1999–2001 Lehrstuhlvertretung Hochschule der Künste Berlin; 2001/02 Lehrstuhlvertretung Universität Basel; 2002 Lehrstuhlvertretung Universität Zürich; 2001–2005 SNF-Förderungsprofessur für Geschichte der Gegenwartskunst, ETH Zürich; 2005–2011 Professor für Moderne und zeitgenössische Kunst, Universität Zürich; 2007 Gastprofessur Graduate School of Architecture, Planning and Preservation, Columbia University in the City of New York; 2011 Visiting Professor BIArch, Barcelona Institute of Architecture; 2020 Visiting Professor, Cornell University, Department of Architecture; 2015-20 Principal Investigator, Future Cities Laboratory, Singapore-ETH Center, Singapur, seit 2011 Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich. 2017–2019 Vorsteher des Departements Architektur, ETH Zürich.

NOTES

(1) Allan Kaprow, Experimental Art (Art News, 65, 1966), wiederabgedruckt in: Allan Kaprow, Essays on the Blurring of Art and Life, Edited by Jeff Kelley, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 1993, S. 80.
(2) Die Texte sind soeben wieder aufgelegt worden: Robert Smithson, The collected writings, (Hg. von Jack Flam), Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 1996.
Abbildung 1: Ein Teilnehmer in Allan Kaprows Record, 1967, bei Austin, Texas. Photo: Howard Smagula
Abbildung 2: Robert Smithson: New Jersey, New York with 2 Photos, 1967, Collage, Karten, Photographien, Tinte, Bleistift, (Nachlass Robert Smithson, John Weber Gallery, New York)
Abbildung 3: Mark Dion: Life Raft, 1995, Installation im Rahmen der Ausstellung „Platzwechsel", Kunsthaus Zürich 1995. Photo: Philip Ursprung

(From Issue 0, transPosition)